Ihre Meinung zur Wahrnehmung von Störungen
Wir wollten im letzten Newsletter von Ihnen wissen, ob Sie es gut finden, dass mehr über die geistige Gesundheit geredet wird - oder ob Ihnen das schon zu viel ist. Hier einige Auszüge aus Ihren Antworten:
"Hätte ich als kleiner Junge die richtige Hilfe bekommen, dann wäre ich kein ADHS-Kind geworden: Immer hyperaktiv, extra schlank, keine Möglichkeit in der Schule ruhig zu sitzen und hochsensibel. Diese Kombination macht Menschen zu Emphaten mit Sensibilisierungsproblemen. Heute ist lediglich HSS geblieben. In meiner Familie ist HSS und ADS vorhanden. Das belastet den Mensch ein ganzes Leben.
Fazit: Wäre es früh erkannt worden, dann hätte ich ein weniger aufregendes Leben geführt, obwohl es war spannend genug und ich möchte keinen Tag missen. Deshalb müsste das Thema in den "Foren" von Fachleuten gemanagt werden. Ich habe eine zeitlang eine Selbsthilfegruppe geleitet. Die Erkenntnis: Die Mehrzahl war durch externe Einflüsse so geworden. Und keine/keiner kannte den Unterschied zwischen ADS-ADHS-HSS. Meine Empfehlung: Helfen Sie mit, das Thema richtig in die Öffentlichkeit zu bringen." Wilfried Käufler
“Die gestellte Frage kann ich auf Grund eigener Erfahrungen ungewohnt eindeutig beantworten: Nein, das ist kein Hype - auch wenn manches dumme Zeug im Netz dazu vermuten lassen könnte, dass hier eine Mode bedient wird - , sondern es war überfällig, psychische Abweichungen von der Norm (die eigentlich wer definiert?) endlich aus der Tabuzone zu holen und zu entstigmatisieren. Hätte ich vor 40 Jahren gewusst, was ich heute über Depressionen weiß, hätte ich meiner Mutter in ihren letzten Jahren wirklich beistehen können. So wurde mir erst lange nach ihrem Tod klar, was mit ihr geschehen war.
Ich habe als Lehrerin gearbeitet, und ich kann mich noch gut erinnern an den seltsamen Tonfall, als die ersten Fälle von Legasthenie bekannt wurden und in Konferenzen "besprochen" wurden. Dann kamen die verschiedenen Erlasse dazu mit Notenschutz etc., aber an der grundlegenden Skepsis änderte sich nichts wirklich, und man hätte therapeutisch mehr erreichen können, wenn man die betroffenen Kinder nicht wie Aliens behandelt hätte. (...)
Allerdings kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass angesichts des überall sichtbaren Kriegselends, der drohenden umfassenden Demokratie-Krise und des anrollenden Klimawandels das Thema der seelischen Gesundheit schon ein bisschen ein Luxusproblem ist.... nichts für ungut.”
Maria Stein
“Die menschliche Gesundheit inklusive der geistigen muss in einer aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft Gegenstand journalistischer Berichterstattung sein. Dabei kann es eher ein Zuviel als ein Zuwenig geben. Allerdings ist die ohnehin nötige Verantwortung der Medien hier in besonderer Weise gefordert. Denn es besteht die Gefahr, dass medizinische Zusammenhänge von einem weniger gut gebildeten Publikum nicht oder falsch verstanden werden. Dann kann es zu einem Hype kommen, also zu einer spektakulären Mutmaßung, die bis zu einer inszenierten Täuschung reicht.
Laut „Mercks Manual MSD - Professionelle Version“ ist ADHS medizinwissenschaftlich definiert als Konzentrationsstörung, die auf eine angeborene oder im frühen Kindesalter entwickelte Störung der Hirnfunktion zurückgeht. Innerhalb der medizinischen Forschung ist die Zahl der Betroffenen umstritten. Skeptiker gehen von allenfalls fünf Prozent der Kinder in entwickelten Gesellschaften aus, die Vertreter einer früh einsetzenden Therapie sogar von bis zu 15 Prozent und mehr. Besonders kritisiert wird die vorherrschende Diagnose auf der Grundlage von Fragebögen, vor allem dann, wenn die Erhebung von Pädagogen durchgeführt wird. Es ist bekannt, dass Fragen die Vorwegnahme von (erwünschten) Antworten sein können. (...)”
Klaus Philipp Mertens
"Ich begrüße es sehr, dass über psychische Krankheiten gesprochen und das Thema enttabuisiert wird. Statistisch gesehen, ist 1/5 der Deutschen mindestens einmal im Leben von einer Depression betroffen, und allein schon bei solchen Zahlen muss man z.B. über Depressionen sprechen.
In dem Zuge finde ich auch Suizidprävention (und das Reden darüber) wichtig.
Dabei darf man auch nicht übersehen, dass die Suizidrate bei Männern höher ist, und das bringt uns zum Thema "Toxische Männlichkeit", was sich negativ auf Körper und Seele auswirkt. Man sollte das Thema "Mentale Gesundheit" wirklich ernst nehmen und nicht mit ein paar saloppen Nebenbemerkungen verharmlosen, was aber viele Menschen tun. Da heißt es mal eben: "Ach ja, ich bin halt ein bisschen..."
Ich möchte betonen: Wer Widersprüche in sich trägt - und das tun wir doch alle - ist nicht gleich schizophren. Wer es sauber und ordentlich mag, hat keine Zwangsstörung, nicht jedes Energiebündel hat ADHS, und nicht jeder, der nachts auf dem Nachhauseweg ängstlich ist, leidet unter Paranoia.
Und wenn die Kinder sich mit dem Lesen und Schreiben oder mit Mathematik schwer tun, haben sie nicht gleich Dyslexie oder Dyskalkulie, wobei man das natürlich prüfen sollte. Ich finde: Das, was man früher zu wenig gemacht hat, wird jetzt übertrieben. (...)
Heute wird gleich alles auf die Psyche geschoben und dann heißt es sofort: "Aus medizinischer Sicht ist alles in Ordnung, aber wie steht's denn um Ihre Psyche?"
Lily Choe
|